Die Bilder sind die Wirklichkeit
Text von Klaus Becker im Katalog zur Ausstellung Köpfe / Skulpturen in der Galerie Basta 1990.
"Um sich der ständigen Nähe und sichtbaren Anwesenheit des Ahnengeistes zu versichern, bereitete der Melanesier seiner Seel eine Wohnstätte. Wie schon in Lebzeiten, galt der Schädel auch nach dem Tode als Sitz der Seele. Deshalb gab man ihm durch Übermodellieren und Bemalen ein nach Möglichkeit portraitgetreues Aussehen. Die liebevoll hergerichteten Schädel der Ahnen wurden an besonderen Stätten, häufig im Innern der Männer-Versammlungshäuser, aufbewahrt, zusammen mit Kultgeräten, wie den heiligen Flöten, Schwirrhölzern, Tanzmasken und -trommeln.
Eine Mumifizierung des ganzen Körpers ist in den Tropen kaum durchführbar, aber trotzdem begnügte sich der Melanesier nicht immer mit dem Schädel des Ahnen, sondern verfertigte aus allerlei Pflanzenstoffen lebensgroße, menschenähnliche Figuren und setzte diesen Puppen den Ahnenschädel auf. Solche Häuptlings-Ahnenstatuen standen in den Männerhäusern von Süd-West-Malekula (Neue Hebriden). Vor ihnen wurde geopfert, man setzte ihnen Speisen hin - denn auch im Jenseits brauchen die Seelen Nahrung - und wandte sich in Gebeten an sie. Auf einer späteren Entwicklungsstufe wird auch der echte Schädel nicht mehr verwendet, sondern die ganze Figur geschnitzt - meistens aus Holz, gelegentlich auch aus Baumfarnmark und Kreide - oder aus Stein gehauen. So entsteht aus dem Schädelkult die Ahnen-Statue, die sich später immer mehr von der ursprünglichen naturalistischen Nachbildung des menschlichen Körpers entfernt und in den einzelnen Kulturen und Inselgruppen jeweils spezifische Stile hervorbringt." (Zitat aus "Kunst der Südsee", Text Heribert Tischner, Hamburg 1954)
Es gibt soviele Welten wie es Menschen gibt, und die Bilder unserer heutigen Welten sind geprägt von alten und neuen Ritualen, die wir instinktiv erahnen oder die wir kennen. Sie wirken durch uns bis in unsere Zeit.
Den Kopf eines Menschen losgelöst vom Körper zu betrachten, als den Hauptsitz des Wesens oder der Seele der oder des Portraitierten, und ihn durch die (Neu-) Bildung seiner Gesichts- und Kopfform aus der zeitlichen in eine ewige Welt hinüberzuretten, ist für mich ein solches Ritual.
So wie der/die Bildhauer/in sich in das Gesicht eines Menschen versenkt, den er/sie portraitiert, kann sich kein anderer auf das Gesicht eines Menschen konzentrieren, ohne zumindest störend zu wirken oder Aggressionen hervorzurufen. Es ist nicht üblich, seinen Mitmenschen eingehend zu betrachten und sich in seine Züge zu vertiefen, ohne daß ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden besteht.
Es ist ein Eindringen in die Welt des Anderen, das Erforschen eines Universums, eines für sich existierenden ganzen Teiles; es ist das Formen eines Weltbildes in Gestalt eines Kopfes - und der/die Bildhauer/in weiß, es gibt unendlich viele (Köpfe und Weltbilder) und alle sind verschieden und doch auch ähnlich.
Am Ende ist ein Portrait entstanden, eine neue Form neben der Kopfform des Portraitierten, aber nicht ein "Abbild", sondern ein neues Bild, eine neue eigene Wirklichkeit. Der mögliche Einwand, ein Portrait sei "nur" ein Abbild, beruht auf einem Irrtum: Ich glaube, es gibt gar keine Abbilder, es gibt nur Bilder. Und die Bilder sind die Wirklichkeit.