Genese der Figur
von Dr. Sven Nommensen
Versuch über die Figuration im Werk von Almut Heer.
„Wie soll man es bloß anstellen, eine Kunst mit neuer Kraft zu erfüllen, die sublim bei den Ägyptern war, vollkommen bei den Griechen, imposant im alten Rom, erregend unter den Händen Pugets, noch unlängst leidenschaftlich unter dem Meißel David d'Angers und kraftstrotzend in den Bronzen Barys. Wer kann auf eine noch nicht ausgebeutete Ader in dieser Goldmine stoßen, die so erschöpft scheint und dennoch unerschöpflich ist? Das ist das Problem, das unsere Bildhauer beschäftigt und sie verunsichert.“ (Blanc, 1866, S.62)
Seit den
Errungenschaften der sogenannten Klassischen Moderne hat das
Figurative in der bildenden Kunst einen schweren Stand. Mit der
Entdeckung der Abstraktion scheint sowohl in der Malerei als auch der
Bildhauerei die Gestaltung figurativer Elemente mit dem Überkommenen,
dem ewig Rückständigen stigmatisiert. Dennoch hat sich das
Figurative trotz aller Schmähungen als stabile Komponente auch
innerhalb der Moderne erwiesen. So werfen bereits Namen
wie Wilhelm Lehmbruck, Gerhard Marcks oder Alberto Giacometti ein
Licht darauf, dass die Geschichte der Skulptur ohne Figuration um
entscheidende Positionen ärmer wäre. Insbesondere nach dem Zweiten
Weltkrieg erwies sich die figurative Skulptur als nahezu
prädestiniert, die Zerrissenheit menschlichen Daseins zu
kommentieren; Germaine Richier sei als eine der exponierten
Positionen angeführt. Durch Pablo Picassos gesamtes Werk ziehen
sich kubistisch geprägte, figurative Plastiken. Amerikanische
Künstler wie Edward Kienholz, George Segal, Duane Hansen und
viele mehr wären ohne die menschliche Plastik nicht denkbar. Bis
in die jüngste Vergangenheit hinein sorgen figurative Skulpturen
von Jeff Koons, Stephan Balkenhol oder Jonathan Borofsky und anderen
für Aufsehen. Almut Heer
ist Bildhauerin – in erster Linie. Sie läßt sich,
ähnlich wie oben genannte Künstler, nicht vom Lärmen selbsternannter Defätisten beirren,
die in den vielfach wiederholten Totengesang auf die Figur in der
Kunst einstimmen. Die menschliche Figur und das Portrait in Zeichnung
und Malerei, vor allem aber im Relief und in der Plastik sind fester
Bestandteil ihrer künstlerischen Arbeit. Im Folgenden wird die
Werkreihe „9 Variationen über das Thema
Spielbein/Standbein“ behandelt sowie drei Werkgruppen des
Projektes „Figurenallee“. Weniger basiert die Entstehung
und Abfolge dieser Reihen auf einem geplanten Vorhaben; vielmehr gibt
erst der Rückblick zu erkennen, daß die Künstlerin
einem konsequenten Weg folgt. Mitte der 1990er Jahre greift Almut
Heer mit „9 Variationen über das Thema
Spielbein/Standbein“ unter besonderen Vorzeichen auf klassische
Vorbilder zurück. Aus Bossen, die bereits Höhe und Umfang
der Skulpturen festlegten, schnitt die Künstlerin divergierende
Körperhaltungen und Physiognomien heraus. Acht der neun Figuren
nehmen die klassische Standbein/Spielbein-Pose, eine Figur nimmt eine
symmetrische Beinhaltung ein.
Die Körperhaltungen in "9
Variationen" öffnen unwillkürlich den Blickwinkel auf
klassisches bzw. klassizistisches Formenvokabular. Ohne Zweifel
dürfte die Behauptung von Maxime Du Camp, dass "[...] die
heidnische Antike, die die Kunst der Skulptur zu höchster
Vervollkommnung geführt hat, [...] für Bildhauer aller
Zeiten eine hervorragende Inspirationsquelle [bleibt]"1
noch heute auf weitestgehende Zustimmung stoßen.
Dennoch wird
insbesondere im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, der Epoche des
sogenannten Neo-Klassizismus deutlich, daß die Antike „[...]
ein Feld [ist], das sehr schnell unfruchtbar wird, wenn man es nicht
mit seiner eigenen Inspiration aberntet“ (Pierre-Jean David
d'Dangers über Simart).2 Auf “9 Variationen”
bezogen, läuft diese Mahnung ins Leere. Das inspirative Moment
dieser Arbeit liegt in seinem Konzept: jenseits antiker Vorbilder,
aus dem Gedächnis arbeitend, dekliniert Almut Heer den
Kontrapost durch; quasi seriell fertigt sie die gleiche Figur. Diese
Untersuchungen münden in jeweils unterschiedliche Anmutungen
ein- und derselben Haltung. Nach einem inneren Bild arbeitend
verhilft sie ihren subjektiven Vorstellungen und Befindlichkeiten zum
Ausdruck. Die Vorgehensweise birgt sogar ein gewisses
Überraschungsmoment in sich, da sich die Künstlerin nach
Fertigstellung mit Artefakten konfrontiert sieht, die sie –
nach eigener Aussage - als Spiegel ihrer Verfassung wahrnimmt. Nach Uwe
Haupenthal negiert die Reihung eine Begründung bzw.
Rechtfertigung eines individuellen Ethos. „Almut Heers
Installation zeichnet sich vielmehr durch eine konzeptuelle
Transparenz und materialbezogene Leichtigkeit aus, die gänzlich
neu ist. Was zählt, ist nicht länger die einzelne
gestaltete Figur, sondern ein übergeordneter, aus der Reihung
hervorgegangener Kontext“. 3
Vor diesem Hintergrund setzen Almut
Heers Untersuchungen die Abfolge von der antiken über die
klassizistische zur zeitgenössischen Auffassung von Figur
überzeugend fort. Während im 19. Jahrhundert noch die
eklektizistische Nachahmung der Antike vorherrschte, geht Almut Heer
einen entschiedenen Schritt weiter. Sie arbeitet jenseits von Modell
und Vorbild, um unter zeitgenössischen Vorzeichen zu
"klassischen" Ergebnissen zu gelangen. In diesem Sinne
verkörpern die "9 Variationen" eine konzeptuelle,
spielerische Umsetzung des Erbes antiker Kompositions- und
Schönheitsideale. Wenn auch den Abfolgen
der Werkreihen keine kalkulierte Methode zugrunde liegt, aus dem
Rückblick findet die Auseinandersetzung mit kanonisiertem
Formenrepertoire im „Projekt Figurenallee“ ihre
konsequente Fortsetzung. Die Künstlerin schreibt hierüber:
„1997 erhielt ich starke
Impulse durch einen luxemburgischen Schloßpark und seine
spätbarocke Figurenallee. Die Originalfiguren sind aus Sandstein
gehauen und leicht unterlebensgroß. Sie stehen auf knapp einen
Meter hohen Sockeln. Die 10 mythologischen (meist Götter-)
Gestalten stehen sich als Mann und Frau gegenüber und schauen
auf den hindurch flanierenden Besucher.
Es handelt sich um
Darstellungen des Herkules' und der Venus, von Abundantia und Merkur,
einer nicht eindeutig zu identifizierenden Figur, die ich 'Mann mit
Kind' nenne und Diana, der Demeter und Pan und Baccus und einer
Lucretia.
Diese Skulpturen waren
stark verwittert und ich befasste mich mit dem Plan des
zeitgenössischen Neuentwurfs aller Figuren.“ Die erste
Serie des Neuentwurfs rückt das kontradiktorische Moment in den
Vordergrund. Dass die klassischen bzw. die barocken Vorbilder in
vielerlei Hinsicht konterkariert werden, lässt sich an folgenden
Indizien festmachen: die Beschaffenheit der Oberflächen weisen
sichtbare Spuren des Herstellens auf, es zeichnen sich die Abdrücke
ab, mit denen die Künstlerin scheinbar nachlässig die
Extremitäten mit dem Rumpf verbunden hat; auch wird z.B. die
Kniescheibe schlichtweg durch eine aufgesetzte Scheibe Ton
"übersetzt". Physiognomie, Hände, Füße
usw. werden weniger detailliert ausformuliert, mithin aufs
Äußerste reduziert. Die Proportionen sind unstimmig, die
Anatomie ungelenk. Die Skulpturen lassen keinen Zweifel daran, dass
der Herstellungsprozeß von Spontaneität geprägt war.
Die Gebilde vermitteln gar teilweise den Habitus der Nachlässigkeit. Nicht ohne
Grund bezeichnet die Künstlerin ihre Assembles als Bozzetti. Der
bereits in der italienischen Renaissance verwendete Begriff steht für
„rohe Ausarbeitung“, „erster künstlerischer
Entwurf“. Auch wenn der Bozzetto seit dem 18. Jahrhundert als
eigenständiges Werk teilweise größeres Ansehen als
das Endergebnis genießt, erfährt die Freiheit im Ausdruck
nicht immer einhellige Zustimmung. Stets wird von den Zeitgenossen
auf den Mangel an anatomischer Korrektheit hingewiesen. Dennoch
melden sich immer wieder fortgeschrittene Kritiker zu Wort, die die
Freiheiten im künstlerischen Ausdruck verteidigen. 4 Im Sinne
jener „Freiheiten im künstlerischen Ausdruck“
interpretiert Almut Heer die mythologischen Gestalten des
luxemburgischen Schlossparks. Spontaneität und intuitiven Umgang
mit Material und mit anatomischen Zusammenhängen in den
Vordergrund stellend, gelangt sie zu unmittelbarer Ausdrucksstärke.
Wenn die Arbeiten auf der einen Seite also "Richtigkeit"
vermissen lassen, erhalten sie auf der anderen Seite
"göttlichen Funken und Leidenschaft" –
jene Parameter, die Maxime Du Champ bei den zeitgenössischen,
sich mit klassischen Vorbildern befassenden Künstlern
schmerzlich vermisste. 5
In der
impulsiven Umsetzung der Figuren zeigt sich einmal mehr der Kontrast
zu den klassischen Standbein-Spielbein Skulpturen: der Künstlerin
ist es nicht an der naturalistischen Manier
gelegen oder an der polierten Oberfläche – dies
belegt auf andere Weise auch das zugrundeliegende Konzept bzw. der
spielerische Umgang mit den „9 Variationen“. In der zweiten Serie unternimmt die
Künstlerin den Versuch, den ungehemmten Umgang mit dem Material
zu konsolidieren. Die Figuren nähern sich gleichsam wieder den
barocken Vorbildern an, indem ihnen entsprechende Attitüden
verliehen werden. Sie werden raumgreifender, die Figuren-Achsen
schieben sich in den Raum hinaus. Die anatomischen Details werden
nicht naturalistisch, so doch prägnanter und bestimmter
gegenüber der ersten Serie ausgeführt. Die Figuren gewinnen
vor allem an Festigkeit, ohne an Bewegung zu verlieren. Die
Gesamterscheinung wirkt kontrolliert, die Haltung gemessen. Auch wenn die Anatomie
nicht der klassizistischen Auffassung entspricht, so lässt sie
doch einige Merkmale erkennen, die in Richtung des künstlerischen
Stils des 19. Jahrhunderts verweisen, wie z.B. streng gehandhabte
Formen in additiven Kombinationen zusammen mit einer ausgeprägten
Linie und Körperhaftigkeit. Es scheint, als will die Künstlerin
die mit der 1. Serie erreichten Freiheiten zurücknehmen und sich
in der 2. Serie wieder der klaren und gemäßigten Form
vergewissern. Die 3. Serie wiederum
knüpft an die erste an. Auch hier weisen die Figuren Abdrücke
im Material auf, die Größenverhältnisse der
Körperteile zueinander scheinen unausgewogen, die Extremitäten
sind teilweise überlenkt. Diese Merkmale zeichnen bereits die
erste Serie aus und lassen Rückschlüsse auf den
Herstellungsprozeß zu. Jedoch sind Unterschiede zur 1. Serie
auszumachen. An der Figur des
Hercules' soll dies exemplarisch erläutert werden: Gedrungen,
kraftstrotzend in den Körpermaßen; grob, unnuanciert
modelliert tritt er in Erscheinung; die stämmigen Beine auf
kräftigen Füßen bieten ein stabiles Fundament; der
übermäßig ausladende Arm an der Keule drückt
Kraft und Kampfbereitschaft aus. Blockartig proportioniert
harmonieren Kopf und Hals mit der kompakten Gesamterscheinung. Die
Kombination von Athletik, ausladend und kräftigen Armen sowie
von Kompaktheit evoziert die Charakteristika von ungestümer
Kraft und Durchsetzungsvermögen. Die oben beschriebenen
Merkmale des Herkules' sprechen eine eindeutige Sprache: Der
Herstellungsprozess stand wie jener der ersten Serie unter dem
Vorzeichen der Spontaneität. Allerdings ist die Anlage der Figur
gegenüber der ersten Serie differenzierter: allein die Füße
stehen in einem größeren Winkel zueinander, was den
Bewegungsachsen größere Spannung verleiht. Auch ist der
Hals weniger massiv, die Arme nicht durchgehend kompakt und die
gesamte Körperhaltung ist geschmeidiger, die Proportionen sind
gegenüber der ersten Serie rhythmischer zueinander angelegt.
Gleichsam, als habe die Künstlerin der Figur manieristische Züge
verliehen, gewinnt sie an Bewegtheit und Leichtigkeit. Die Figur des
Hercules' verkörpert nunmehr trotz der kompakten Erscheinung
Sensibilität, Entschlussfähigkeit und Tatkraft. Aus der Rückschau
wird die Schlüssigkeit der untersuchten Arbeiten und ihrer
Abfolge deutlich: von den Studien zu Körperhaltung und
Physiognomie in "9 Variationen" zur ersten Serie der
barocken Figuren - dem ungehemmten Umgang mit Material und Anatomie -
sowie deren Konsolidierung in der 2. Serie durchläuft Almut Heer
eine ganze Bandbreite von skulpturalen Möglichkeiten. Von der klassischen über
die impulsiv-spontane Interpretation mündet die Figur
schließlich in das expressive Ausdrucksverlangen der 3. Serie.
Die Formensprache dieser Figurenreihe trägt in einem
raffinierten Zusammenspiel von sensibler Modulation und dynamisch
bewegter Pose zum emotionalen Ausdruck bei. Auch wenn anatomische
Bestandteile überzogen ausgeprägt oder verzerrt modelliert
sind, harmonieren diese in der Gesamterscheinung. Die Figuren der 3.
Serie sind stringent, ohne Dynamik und Ausdruck gegenüber der 1.
Serie einzubüßen. Almut Heers Umgang mit
der Figur führt zu einer überzeugenden Symbiose von
Sensibliät und Expressivität. Ihre Untersuchungen zeugen
davon, daß ihr Werk der zeitgenössischen Formensprache
verpflichtet ist, ohne die Tradition zu leugnen.
- 1 Zitiert
nach: Françoise Cachin: Europäische Kunst im 19.
Jahrhundert, Bd. II, Freiburg i. Br. 1991, S. 196.
- 2Beispielsweise
urteilt Thoré-Burger über die neoklassizistische
Figurengruppe der "Cornelia, Mutter der Gracchen", 1861
von Jules Caveliers: "[...] es fehlen ihr der Enthusiasmus,
das Feuer [...] kommunikatives Leben, Persönlichkeit,
Charakter." Zitiert nach Ebd.
- 3Uwe
Haupenthal: Rede zur Eröffnung der Ausstellung Almut Heer und
Winni Schaak in der Galerie im Gürtlerhof in Husum am
22.9.1996, Archiv Almut Heer, ohne Seitenangabe .
- 4So
schreibt Mantz über das Relief „Hekuba“, 1863 von
Auguste Préault: „Er hat die menschliche Gestalt als
ein Arabesken-Motiv behandelt, er hat ein Ding gebildet und keine
menschliche Figur, und indem er sich auf so eigenwillige Art von
der Realität und vom Leben entfernt hat, hat er sich das Drama
erschlossen, das sich nur da abspielt, wo der Mensch ist.“
Zitiert nach Cachin, S. 201.
- 5Der
Faun von Perraud läßt nach der Meinung M. Du Champs
"[...] zu sehr das Studium des Vorbilds und die Beschäftigung
mit der Antike erkennen; es fehlt das gewisse Etwas an
Persönlichkeit und Eigenart, der unauslöschliche Stempel
des Kunstwerks, mit einem Wort, es fehlt der göttliche Funke,
die Inspiration." Zitiert nach Ebd., S. 196.
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